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Spritz-Ess-Dingens-Magie

„Einen Spritz-Ess-Abstand brauchst Du nicht!“, haben sie gesagt.
„Die aktuellen Insuline sind schnell genug!“, haben sie gesagt.
„Das macht alles unnötig kompliziert.“, haben sie gesagt.

Ha!

Aber fangen wir vorne an…

Was ist dieses Spritz-Ess-Dingens eigentlich?

Jemand, der den Begriff Spritz-Ess-Abstand das erste mal hört… wobei… nein… ich werde präziser: Jemand mit einem beträchtlichen Anteil an, in der Pubertät hängen gebliebener Gehirnzellen — also: Männer — solch einem Jemand möchte ich, bevor er sich womöglich von einer gewissen Zweideutigkeit in die Irre geleitet fühlt, helfend sagen: Nein, der Spritz-Ess-Abstand hat nichts mit postkoitaler Nahrungsaufnahme zu tun! 

Beim Spritz-Ess-Abstand geht es vielmehr um die Frage, wann man sich am besten das Insulin zum Essen verabreichen sollte. Vorher? Nachher? Mit wie viel Abstand? Und warum macht man sich überhaupt so einen Kopf darum?

[*Erklärbär-Stimme-AN*] Beim Essen liefern sich Insulin und Kohlenhydrate ein Wettrennen. Das Insulin senkt den Blutzuckerspiegel, die KH lassen ihn steigen. Im Idealfall sollte das möglichst ausgeglichen geschehen, aber dafür muss man was tun. Da das Insulin eine gewisse Zeit braucht bis es wirkt (meist trödelt es erst ein bisschen im Bauchfett herum), geht es nicht alleine um die richtige Menge Insulin, sondern auch um den Abstand zum Essen: Tadaaa, genau das ist der Spritz-Ess-Abstand oder kurz: SEA!

Der SEA macht den Alltag nicht gerade unkomplizierter und er birgt auch das ein oder andere Risiko, so dass man Neulinge oft nicht damit belästigt. So war es auch bei mir.

SEA — Nichts für Anfänger?

Mein Essens-Insulin ist das Apidra und zu Beginn meiner Diabetes-Karriere hieß es immer: „Das Apidra ist so schnell, da braucht man keinen Spritz-Ess-Abstand.“ Das fand ich überaus praktisch, denn dadurch konnte ich spritzen und sofort losfuttern. Mein Zuckerpegel erreichte allerdings häufiger mal die 250 mg/dl oder überschritt sie sogar und er brauchte auch mal länger, bis er wieder im grünen Bereich ankam. Meine durchschnittlichen Blutzuckerkurven zeigen das ganz gut:

AGP_ohne_SEA

(Max 294 mg/dl, 90%-Max. 260 mg/dl, 75%-Max. 229 mg/dl, Ø 147 mg/dl)

Ich stellte mir die Frage, ob diese Spitzen nicht vielleicht doch vermeidbar wären, aber zunächst hielt die Praxis das wohl für unnötig. „Alles ok. Völlig normal. Der Zucker kommt ja wieder runter, irgendwann. Das reicht.“, hieß es.

SEA — Der Thrill des kleinen Diabetikers

So richtig zufrieden war ich damit nicht. Als ich das vor einigen Wochen nochmal in der Praxis ansprach, lenkte der Dia-Doc ein und meinte — Apidra hin oder her — wir (also: ich) könnten es ja mal mit einem Spritz-Ess-Abstand probieren (Ach!). Gesagt, getan. Ab dem nächsten Tag spritzten wir (also: ich) das Insulin etwa 15 Minuten vor dem Essen.

*Schwups!* war dieses Gefühl aus der Anfangszeit zurück, als sich jede Dosis Insulin ein bisschen gefährlich anfühlte. So, als würde ich mich in die sofortige Bewusstlosigkeit spritzen und nur eine extrem zeitnahe Nahrungsaufnahme könne mich noch davor retten. Ich möchte es nicht komplett ausschließen, auch mal hektisch zu meinem Teller gehechtet zu sein (Aus dem Weg! Ich muss zu meinen Kohlenhydraten!!!1!elf) — aus reiner Not natürlich. Gerüchte, dass es dabei zu zivilen Opfern kam, möchte ich jedoch energisch dementieren. Und wenn, dann waren es nur ganz, ganz wenige (Ey, wer stellt sich denn auch zwischen einen Diabetiker auf Insulin und sein Essen?!)
Wie auch immer… nun also die Variante für Fortgeschrittene: Spritzen und warten, dann erst essen. Ein bisschen spannend fand ich das ja schon.

Unterschiede

Auf das Ergebnis schauten wir vor zwei Wochen und es hat mich schon sehr beeindruckt, wie viel so ein Spritz-Ess-Abstand tatsächlich ausmacht. Gerade weil es anfangs hieß, er sei eigentlich unnötig. Inzwischen bleibt der Blutzuckerpegel nach dem Essen meistens unter 200 mg/dl, oft sogar ganz im grünen Bereich. Die Kurve ist ausgeglichener. Ich bin es auch. Wer hätte das gedacht?!

AGP_mit_SEA

(Max. 245 mg/dl, 90%-Max. 181 mg/dl, 75%-Max. 159 mg/dl, Ø 120 mg/dl)

Und hier nochmal im direkten Vergleich der Bereich ums Frühstück herum. Das lässt sich besonders gut gegenüberstellen, weil ich die ganze Woche über fast dasselbe frühstücke. Dasselbe Essen. Dieselbe Menge. Super für einen Vergleich.

Vergleich_AGP_Fruehstueck

(links ohne SEA, rechts mit SEA)

Lästig

So schön und beruhigend der flachere Kurvenverlauf auch ist, so lästig ist die ganze Prozedur.

Versucht mal, hungrige Kinder im Zaum zu halten, wenn das Essen eigentlich schon fertig ist, „aber Papa noch einen Moment braucht.“ Nein, ich finde, der SEA muss kein Familienritual werden. Müssen ja nicht alle vor dem vollen Teller sitzen und der Pizza dabei zuzusehen, wie sie mit jedem verlorenen Grad Celsius an Elastizität gewinnt.

Oder im Restaurant: habt ihr mal probiert, den Anreisezeitpunkt des bestellten Essens vorauszusagen? Nostradamus müsste man sein. Sobald dann die 15 Minuten SEA drohen zu ausgewachsenen 45 Minuten zu werden, hört man förmlich das schlürfende Trinkpäckchen-Strohhalm-Geräusch, wenn Glukose- für Glukose-Molekül aus dem Blut gezogen wird.

Bevor man unterzuckert, füllt man dann lieber mit Cola oder ähnlichem wieder auf, was natürlich das mühsam geschätzt-gerechnete Insulin-Kohlenhydrate-Verhältnis komplett über den Haufen wirft. Na, herzlichen Dank!

Apropos Verhältnis. Auch die Portionsgröße zu schätzen, bevor das Essen überhaupt da ist, gehört in die Kategorie „Herausforderung“. Verstohlen linst man da schon mal auf die Teller der Nachbartische, in der Hoffnung, irgendetwas daraus ableiten zu können (Entschuldigen Sie bitte, ist das auch das Saltimbocca? Prima! Könnten Sie vielleicht einmal ihre Gnocchi durchzählen?). Klappt aber eher selten.

Fazit

Auch wenn der Weg dahin ziemlich lästig ist, die Spontanität leidet und das Unterzuckerrisiko steigt, finde ich das Ergebnis lohnenswert. So hat am Ende der SEA auch dazu beigetragen, dass sich mein HbA1C um 0,8%-Punkte verbessert hat und damit deutlich unter die 7%-Marke gerutscht ist. Yeah!

Nachtrag

Ach ja, ohne die passende technische Unterstützung (siehe FreeStyle Libre-Story Teil 1, Teil 2 und Teil 3) wären weder die Spitzen so deutlich aufgefallen, noch hätte ich mich an einen passenden SEA herantasten können. Ein Grund mehr für alle Krankenkassen, das System (endlich!) für alle zu übernehmen und sich nicht so lächerlich zu zieren.

 

Disclaimer

Nicht, das hier Jemand glaubt, ich wolle medizinische Ratschläge erteilen. Ich habe natürlich überhaupt keine Ahnung wovon ich rede, meine das oder genau das Gegenteil, gebe weder Tipps noch spreche ich Empfehlungen aus. Im Grund solltet ihr das nicht einmal lesen, wenn Euch Eure Gesundheit lieb ist. Schließlich bin ich weder Dia-Berater noch -Doc, sondern ausschließlich Mensch mit einer gewissen Insulinabstinenz, gepaart mit Experimentierfreudigkeit und einem Hang, meine Probleme in die Welt zu posaunen.

Und überhaupt, was soll dieser Spritz-Ess-Abstand eigentlich sein? Das hat doch sicher was mit Sex zu tun, Ihr kleinen Ferkel!

Flitterwochen 

Honeymoooooon!

So wird die Remissionsphase wohl auch genannt, in der ich mich seit einigen Tagen befinde. Hochzeitslaune hab‘ ich allerdings nicht gerade, eher ’nen Mords-Hangover. Der erklärt wohl auch, warum ich mich an das Ja-Wort zur Ehe mit meiner geliebten Diabetes so gar nicht erinnern kann.

Und überhaupt. Honeymoon? Echt?
Wenn das kurze, verheißungsvolle, aber zum kläglichen Scheitern verurteilte Aufleben der eigenen ß-Zellen irgendwas mit Flitterwochen zu tun hat, ist der Paartherapeut des Namensgebers in etwa genauso zum Scheitern verurteilt, wie meine ß-Zellen gerade.

Remission

Das bedeutet, der Körper spielt nochmal ’ne Runde mit. Der Blutzucker geht durch eigenes Insulin schneller nach unten und man muss weniger spritzen. Woche für Woche, immer ein bisschen weniger. Wie wenig, weiß Niemand. Das hält dann eine Weile an, aber wie lange, weiß auch Niemand. Wochen. Monate. Jahre?

Ich bin begeistert. Eine weitere Unbekannte in einer Gleichung, die für mich jetzt schon viel zu undurchsichtig ist.

Nicht, dass ihr mich falsch versteht, liebe ß-Zellen, danke für Euren Einsatz! Eure Situation ist ja auch undankbar. Ihr dürft kurz zurück in den Ring, obwohl die gegnerische Mannschaft mit all ihrer Überlegenheit bereits in der anderen Ecke darauf wartet, Euch endgültig auszuknocken.

Flitterwochen eben. In der die Liebe nochmal kurz auflebt, bevor der Ehe-Alltag sie gnadenlos…

Romantisch? Kann ich!  ツ

An App for that

„Gibt es eigentlich eine App für…“„Ja!“

Denn es gibt für alles eine App. Für alles! Und ist das nicht großartig? Ich liebe die Technik und hab mich natürlich auf die Suche nach sinnvollen Diabetes-Begleitern gemacht.

Diabetes-Monster zähmen

Mein Diabetes-Starter-Kit enthielt neben Spritzen und Messstreifen und Fingerkuppenfolterwerkzeugen auch ein kleines Büchlein, in das ich meine Blutzuckerwerte eintragen sollte. Analog. Offline. Haha!

Aktuell verwende ich mySugr, einer App aus Wien. Die App ist zugegebenermaßen etwas bunt und verspielt, aber hey!, passt doch prima zu meinem späten Jugendlichen Diabetes.

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Das Eintragen von Blutzuckerwerten, Insulineinheiten, verzehrten BEs, Medikamenten, Notizen und vielen Informationen mehr klappt einfach und schnell.

Es lassen sich sogar Fotos einzelnen Einträge hinzufügen, was helfen kann, die Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel besser zu erklären. Ob im Restaurant, wenn man die BEs nicht so gut vorhersagen kann oder beim Sport, etwa um eine Beziehung zu den gelaufenen Kilometern herzustellen. Fotos vom Essen, der Speisekarte oder Screenshots einer Sport-App können bei einer späteren Analyse helfen.

Die Reports der App sind schick und fassen die wichtigsten Informationen verschiedener, auswählbarer Zeiträume zusammen. Mir machen die „grünen Tage“ Spaß und die App schafft es tatsächlich, mich zu motivieren.

BEs zählen

Wieviele BEs hat eigentlich eine Tafel weiße Schokolade? Oh! Und eine halbe? Oder wenigstens ein Riegel?

fddb.info beantwortet diese Frage für Dröfzig Tausend Milliarden Lebensmittel, egal ob aus dem Supermarkt, vom Bäcker, Restaurants oder für Selbstgekochtes.

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Eine passende App, die den Zugang zur FDDB erleichtert, ist Kalorienzähler Foodscanner. Man kann die gewünschten Köstlichkeiten suchen (z.B. über den Barcode auf der Verpackung) und bekommt neben den Nährwerten auch oft die übliche Portionsgröße angezeigt (1 Glas, 1 Scheibe, 1 Tafel usw.). Wenn man die Menge wählt und einer Mahlzeit zuordnet, zeigt die Übersicht auf einen Blick, was man sich da so vorgenommen hat — wenn man möchte, direkt in BEs.

Kühlschrank mit Medikamentenfach

„Hat Ihr Kühlschrank auch ein Medikamentenfach?“

Ein Hypo-Kit, zwei verschiedene Insuline in je 10x Fertig-Pens, Hustensaft, Verhütungsmittel … so langsam wird es voll im Kühlschrank.  Beim nächsten Kühlschrankkauf heißt es dann nicht mehr nur, wo kommen Gemüse, Fleisch, Wurst und Eier hin, sondern auch,

„Hat dieses Modell auch ein Medikamentenfach? Am besten abschließbar oder mit Zahlenkombination. Wegen der Kinder, Sie wissen schon.“

Galerie

Später Jugendlicher

Lange sitze ich nicht im Wartezimmer, da kommt mir die Diabetesberaterin schon entgegen und es geht an den anderen Wartenden vorbei direkt ins Zimmer.

Blutzuckermessung (die 2. heute).
Blut abnehmen (2. mal heute).

Dann kommt die Aufklärung. Ich sei wohl ein „später Jugendlicher“. Ein bisschen Stolz flammt in mir auf. Ja, so fühle ich mich auch: jung geblieben; eher so 39 als 41; später Jugendlicher ist ein toller Begriff dafür!

Der Arzt schmunzelt und dann gibt es jede Menge Begriffe, von denen ich so noch nie was gehört habe: LADA, Typ 1, Ketone, ß-Zellen, Antikörper, Autoimmun, … danach ist mir gar nicht mehr so spät jugendlich zumute.

„Ich weiß nicht, ob Sie das tröstet, aber um 1900 herum wären Sie daran noch gestorben.“

Aha. Interessant.

„Wir werden jetzt direkt Insulin spritzen, damit die Werte runtergehen.
Und ab morgen werden Sie das jeden Tag selber machen müssen.“

Aaaha. Interessant.

Ich gucke ganz gespannt dabei zu, wie sie das Insulin in meinen Bauch spritzt. Seltsam. Das bin ich jetzt? Ein Diabetiker? Langsam, ganz langsam macht sich diese Erkenntnis auf den Weg Richtung Verstand, ohne dort wirklich anzukommen.

„Jetzt Nr. 2. Soll ich nochmal oder möchten Sie?“

„Ich? Auf keinen Fall!“, denke ich mir. Dazu braucht man doch geschultes Personal, eine eigene Krankenschwester zum Beispiel, mindestens. Das kann ich doch unmöglich selber! Also sage wild entschlossen:

„Ähh. Ich kann’s ja mal versuchen.“

Es ist kurz vor 11 Uhr und von „ich wollte doch nur einen Termin“ bis „ich spritze mir selbst Insulin in meinen Bauch“ sind gerade mal 3 Stunden vergangen. An manchen Tagen läuft’s halt bei mir, auch wenn es heute nur Insulin und Blut sind.

Irgendwann kommt Blutzuckermessung Nr. 3 und der Wert ist tatsächlich ein wenig niedriger als heute morgen. Mit einer Tüte voll Equipment und etwa sieben Tausend Fragen mache ich irgendwann auf den Weg nach Hause.